Thiel & Lichtlein: "Torhüter sind das Salz des Handballs"

14.08.2015 9:13
Andreas Thiel (55) genießt Legendenstatus unter den Handballtorhütern. Vor dem Auftakt zur 50. Bundesligasaison am 23. August in der Dortmunder Westfalenhalle traf der „Hexer“, der zwölf Jahre lang das Gummersbacher Tor bewachte, auf den aktuellen Torhüter des VfL Gummersbach, Carsten Lichtlein (34). Sind Sie froh, als Torwart nichts mit der Schlacht um den Kreis zu tun zu haben? Lichtlein: Ja, unser Spiel ist ganz anderes. Bei uns läuft das meiste obendrin, im Kopf, ab. Wenn man sieht, wie die Kreisläufer bearbeitet werden, ist es ganz schön, im Tor zu stehen. Thiel: Ich sehe das uneingeschränkt genauso. Ich hätte nie im Feld spielen wollen. Wir sind Einzelsportler im Mannschaftssport, haben einen spezifischen Job und eine spezielle Aufgabe und sind das Salz des Handballs. Sind Handballtorhüter immer verrückte Typen? Lichtlein: Na klar muss man ein bisschen was an der Murmel haben. Nicht jeder stellt sich freiwillig ins Tor und lässt sich den Ball mit 120 Stundenkilometern um die Ohren schießen! Er ist der Letzte, der etwas ausmerzen kann. Torhüter unter sich sind ein Team im Team. Thiel: Natürlich sind wir auf dem Feld in gewisser Weise extrovertiert und haben einen an der Waffel. Ich glaube aber festgestellt zu haben, dass wir alles Weicheier und Sensibelchen sind. Im normalen Leben bin ich ein sehr zurückhaltender Mensch, mein Verhalten auf dem Feld hat nichts mit meinem Naturell zu tun. Wissen junge Handballer noch, wer Sie sind, wenn sie vom „Hexer“ hören? Thiel: Nein, das beschränkt sich auf Leute meines Alters plus minus zehn Jahre. Das ist auch okay. Alles hat seine Zeit. Ich kann eine Geschichte aus der Westfalenhalle erzählen. Es gab ein Vorbereitungsspiel gegen die Russen. Ich war zum einzigen Mal als Torwarttrainer mit auf der Bank. Nach dem Spiel kommt ein kleiner Junge zu mir und will ein Autogramm. Er dreht sich um und fragt: „Mama, wer ist das?“ Mama kriegt einen roten Kopf und sagt: „Das war Mamas Zeit.“ Wie gut sind die Erinnerungen an das eine Spiel gegen Großwallstadt, die Geburtsstunde des „Hexers“ Thiel: Die sind ziemlich gut. Es war die Saison 82/83. Wir waren da mit vier Titeln auch die Mannschaft des Jahres. Das war das vorentscheidende Spiel. Damals wurde man mit zehn Minuspunkten Meister, und wenn man das Auswärtsspiel beim direkten Konkurrenten gewann, war das ein dickes Faustpfand für den Titel. Wir haben mit einem Tor gewonnen, und ich habe fünf Siebenmeter gehalten. Sind die Reflexe noch da? Thiel: Man verlernt nicht die Reflexe, man verlernt auch nicht das Gefühl für die Situation. Was seit zehn Jahren weg ist, ist die explosive Schnelligkeit der Muskulatur. Ist das also Talent? Thiel: Nicht unbedingt. Wenn wir beide einen Knopf drücken sollen, sobald wir ein Licht sehen, haben wir keine signifikanten Unterschiede in der Reaktionszeit. Die Fähigkeit, die koordinativen Aufgaben ganz schnell umzusetzen, ist Talent, das heißt, gelernte Bewegungen automatisiert abrufen zu können. Zwei Faktoren sind wichtig: Faktor Training und Faktor schnelle Beine – und die gibt dir der liebe Gott. Wie hat sich das Torwartspiel verändert? Lichtlein: Als ich 2000 in die Bundesliga kam, wurde achtmal gekreuzt und irgendwann hat mal einer draufgeschmissen. Heute geht es schneller. Da ist nicht viel mit Taktik. Jeder kennt den anderen Bundesligisten aus dem Effeff. Thiel: Die körperliche Robustheit und die Athletik haben zugenommen. Wir hatten damals 17:18 als Endstand. Heute ist das ein Halbzeitstand. Das heißt, es kommen viel mehr Bälle aufs Tor. Die Konzentrationsphasen sind häufiger, dafür kürzer. Das Duell Mann gegen Mann hat zugenommen. Zu meiner Zeit war ein Handballtorwart auch einer, der mit der Abwehr gut zusammengespielt hat. Das hat nachgelassen. Ich hatte immer einen kleinen Wohlstandsbauch. Das wäre heute unbedenkbar. Welche Rolle hatte der Torhüter früher und welche hat er heute? Thiel: An der Wichtigkeit hat sich nie etwas verändert. Sie werden Deutscher Meister und steigen nicht ab, wenn hinten brauchbare Qualität drin ist. Mit ´ner Gurke im Tor haben Sie keine Chance. Das ist so und war immer so. Im Handball dürfte der Torwart die höchste Wertigkeit am Gesamterfolg haben. Heute helfen beispielsweise Wurfbilder. Können Sie bei jedem Spieler sagen, wo er hinwirft? Lichtlein: Nein, das geht nicht. Man kann höchstens, wenn der Spieler am Ende ein bisschen müde ist, tendieren, dass er in ein Eck wirft. Wie merkt man sich das? Lichtlein: Es ist alles im Kopf. Ich gucke mir zwei bis drei Spiele pro Mannschaft auf Video an und notiere mir vor dem Spiel alles. Jeder Torhüter ist anders. Manche gucken keine Videos, andere machen sich Aufzeichnungen wie ich. Silvio Heinevetter stand neulich im Signal Iduna Park bei einem Benefizspiel im Fußballtor und hat keine schlechte Figur abgegeben. Wie hätten Sie sich angestellt? Thiel: Genau so gut! Ich habe im Fußballtor angefangen und stehe noch heute im Kölner Anwaltverein beim Justizfußballturnier des Landes NRW im Tor. Ich wäre vielleicht nicht so gut wie Silvio Heinevetter gewesen, dafür bin ich 20 Jahre zu alt, aber wie man in der großen Hütte steht, das weiß ich. Lichtlein: Ich habe in der Jugend bei mir in Würzburg auch im Fußballtor gestanden. Mein Vater sagte dann irgendwann, dass ich mich mal entscheiden muss. Ich habe in Großwallstadt auch mal ein Großfeldturnier gespielt. Am nächsten Tag konnte ich mich aber nicht bewegen. Du hast es nie gelernt, dich richtig abzurollen. Die Westfalenhalle ist eine Handball-Kultstätte. Welche Spiele waren die größten? Thiel: Die Europapokalspiele mit dem VfL Gummersbach. Die Westfalenhalle und der VfL Gummersbach waren mein Traum vom Glück. Auch in der großen Saison 1982/83 gegen Moskau im Finale des Europapokals der Landesmeister. Das war geil. Das war ein Handball-Tempel und richtig, richtig schön. Wir wurden 1988 in der Halle auch nochmal Deutscher Meister. Wir brauchten noch einen Punkt gegen den OSC Dortmund. Den haben wir mit Mühe und Not geholt. Quelle: http://www.dkb-handball-bundesliga.de/de/n/news/dkb-hbl/2015/vfl-gummersbach/150813-interview-thiel-lichtlein/

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